Unser Weg nach oben;  wieder in Hamburg! (Herbst 1947)

 


Hurra, wir standen wieder vor einem Hamburger Haus mit einer eigenen Wohnung im dritten Stockwerk. Es war eine Zweieinhalb-Zimmerwohnung mit Küche und Balkon mit Ausblick nach hinten auf die Schrebergärten und weiter nach Marienthal. Ein großes Glück für die ganze Familie.

Eine Schule gab es in unmittelbarer Umgebung, nur war sie leider nicht in Betrieb, weil sie wegen Kriegsschäden vorerst nicht bezogen werden konnte. Die Turnhalle war völlig zerstört, und die Schulgebäude hatten keine Fensterrahmen sowie Glas.  Auch die Inneneinrichtung hatte stark gelitten,  aber es bestand die Aussicht, daß in einem Jahr die Schäden behoben werden konnten. Als der Krieg beendet war, mussten in den Schulräumen Menschen ohne Bleibe untergebracht werden. Da die Nachkriegswinter besonders kalt ausfielen, wurde alles Brennbare in Kanonenöfen
verfeuert.

Aber die Schule in der Hasselbrookstraße war noch heil, und so konnte ich sofort mit meiner Nachbarstochter Ursula zum Unterricht kommen. Wir waren sehr glücklich darüber, begann doch nun für uns nach Jahren ein normales Leben. Ich war mittlerweile in der sechsten Klasse. Jeden Tag hatten wir einen Schulweg von ungefähr 20 Minuten; das war gar nicht schlimm -wir waren eine Gruppe von Kindern, die fröhlich schwatzend durch die Trümmerlandschaft trollte. In Nordhamm waren nur ganz wenig Häuser von den Bomben verschont geblieben. Von den getroffenen Bauten standen aber meistens noch die Außenmauem, die später wieder aufgebaut werden konnten. In unserer Straße standen nun im Jahre 1947 mit unseren wieder aufgebauten insgesamt fünf Häuser. Wenn ich aus meinem Zimmerfenster schaute, blickte ich in leere Fensterhöhlen und auf brüchiges Mauerwerk; kein schönes Bild.

Am ersten Schultag wurde ich von der Klassenlehrerin herzlich begrüßt und gefragt, ob ich auch ein Essensgefäß mitgebracht hätte. Meine Mutter hatte mir vorsorglich eines mitgegeben, und so erlebte ich fast ein Wunder. Es gab eine herrliche Milchspeise, sahnig und mit Reis gekocht. Mein Magen knurrte behaglich vor Freude. So etwas Gutes hatte ich seit langem nicht mehr zu essen bekommen. Es war aus Schweden gespendet worden und begleitete mich ab jetzt jeden Tag während meines Schulbesuches in der Hasselbrookstraße. Meine Klassenlehrerin hatte ich von Herzen gern. Sie war so freundlich und geduldig, wie ich es vorher und nach dieser Zeit nie wieder erlebt hatte. Frau Witt war ihr Name. Vielleicht tat auch die gute Schwedenspeise das Ihre zu diesen liebevollen Erinnerungen.­

Ich hatte bald ein Problem,und zwar musste ich, um später die Realschule (Mittelschule) besuchen zu können, Englisch können. Das hatte ich aber in Glinde nicht gelernt, und so hieß es, ganz schnell die Sprachkenntnisse von zwei Jahren nachzuholen. Meine Eltern besorgten mir also einen Nachhilfelehrer, und da ich sprachbegabt war, hatte ich meine Klassenkameradinnen nach einem Vierteljahr eingeholt. So konnte ich frohgemut auf den nächsten Aufwärtsschritt zuarbeiten.

Unsere Schulleiterin erteilte den Musikunterricht und hatte alsbald beim Vorbeigehen und Horchen festgestellt, daß ich eine gute Stimme hatte. Sie bereitete einen Chorvortrag vor und wählte mich mit aus, daran teilzunehmen, was mein Selbstbewusstsein, damals nicht sehr ausgeprägt, stärkte. Wir übten also Tag für Tag in einem besonderen Raum das Lied "Der Herr ist mein Hirte". Wer diese Musik dazu geschrieben hatte, weiß ich leider nicht, aber ich kann die schöne Melodie noch heute singen. Welch' ein Zufall! Dieser 23-zigste Psalm wurde später mein Konfirmandenspruch. "....Mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele, meine Seeeeeele... etc." Ich vertraue diesen Worten, und sie haben mir ein Leben lang Mut gemacht, nicht zu verzagen und meinen Weg fort zu schreiten.

Eines Tages wurde uns kund getan, daß es demnächst einige Bezugscheine für Kinder mit besonders schlechtem Schuhzeug gäbe. Wer hatte wohl 1947-48 gute Schuhe? Meine Mutter riet mir, meine einigermaßen heilen, aber zu kleinen Schuhe zuhause zu lassen und gegen meine zerschlissenen Hauspantoffeln zu tauschen. Das ging mir völlig gegen den Strich und war mir äusserst peinlich, aber ich konnte mich gegen die Argumente meiner Mutter nicht behaupten. So schlappte ich also los mit dem Ergebnis, daß ich in der Schule von meiner Lehrerin einen Bezugschein für Gummistiefel überreicht bekam, zwar nicht für die ersehnten Lederschuhe, aber  immerhin! Das Problem war nur, wo diese Gummistiefel im zerbombten Groß-Hamburg aufzutreiben sein würden. Meine Mutter lief mit mir von "Pontius zu Pilatus", doch selbst am vornehmen Neuen Wall, dessen Häuser zum größten Teil erhalten geblieben waren, wurden wir nicht fündig. So zerplatzte der Wunsch nach ein Paar schönen Schuhen wie eine Seifenblase in der Luft.

Mit meiner Nachbarstochter Ursula hatte ich mich sehr bald angefreundet. Sie ging auch mit mir in eine Klasse, und in der Freizeit unternahmen wir allerhand Abenteuer. Dazu gehörte das Altmaterial sammeln, womit wir uns ein wenig Geld verdienen konnten. Gegenüber unserem Haus suchten wir in den Ruinen nach Metall, wie Blei oder Kupfer, das wir bei einem Schrotthändler verkauften. Das Herausreißen der Kupferleitungen aus den brüchigen Wänden war gar nicht ungefährlich, doch waren wir sehr vorsichtig und entwickelten uns zu kleinen Experten, auch hinsichtlich Beurteilung, welches Material wertvoll oder nicht so lukrativ war. So konnten wir uns einmal im Monat einen Kinobesuch erlauben, und zwar gab es an der Hamburger Straße ein Kino, wo sich heute das Ernst Deutsch-Theater befindet, und eine "Flohkiste" in der Kirchenpauer Schule.